Psychophysiologie in der Ingenieurpsychologie
Im Mittelpunkt der arbeits- und ingenieurpsychologischen Untersuchungen unseres Labors stand die Erfassung von mentalen und emotionalen Beanspruchungen mit Hilfe psychophysiologischer Methoden (vgl. Boucsein, 1991, 2001, 2006, 2007; Boucsein & Backs, 2000). Herr Prof. Boucsein war Mitbegründer der internationalen PIE-Organisation (Psychophysiology in Ergonomics).

1. Psychophysiologische Produktevaluation
Durch eine in den 1990er Jahren entstandene Verbindung mit koreanischen und japanischen Kollegen wurde in unserem Labor der Einsatz psychophysiologischer Maße bei der Evaluation emotionaler Qualitäten von Industrieprodukten initiiert. Auch die deutsche Kosumgüterindustrie zeigt großes Interesse daran, die wenig ergiebigen Home-Use-Tests durch objektive Methoden zu ersetzen. In mehreren von uns in Zusammenarbeit mit der chemischen Industrie durchgeführten Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass psychophysiologische Maße sehr differenzierte Bewertungen der emotionalen Qualität von Produkten erlauben. Hierzu wurden neben autonomen Reaktionen auch Messungen der Gesichtsmuskelaktivität eingesetzt (Boucsein, Schaefer, Schwerdtfeger, Busch & Eisfeld, 1999; Boucsein, Schaefer, Kefel, Busch & Eisfeld, 2002; Eisfeld, Schaefer, Boucsein & Stolz, 2005; Eisfeld, Wachter, Stürmer, Schaefer & Boucsein, 2006). Die Untersuchungen werden durch Drittmittel der chemischen Industrie finanziell gefördert.

2. Adaptive Automatisierung
Interaktive Mensch-Maschine-Systeme sind heute in der Lage, den Grad der Automatisierung in Abhängigkeit von der Beanspruchung des Operators zu verändern. Psychophysiologische Maße haben gegenüber Leistungsparametern den Vorteil, daß sie unabhängig vom sichtbaren Verhalten des Operators kontinuierlich Informationen über dessen Beanspruchungszustand liefern. Beispielsweise könnte über die Erfassung und online-Auswertung spontaner elektrodermaler Aktivität (EDA) eine Veränderung der Aktiviertheit frühzeitig erkannt und der Grad der Automatisierung dementsprechend erhöht oder vermindert werden. In unserem Labor werden derzeit Modelle für solche adaptive Automatisierungen mit Hilfe verschiedener psychophysiologischer Parameter (EDA und Herzratenvariabilität) bei einer Instrumentenflugsimulation getestet/ (Zitate). Zur Wirkung unterschiedlicher Pausenregimes auf die psychophysiologische Beanspruchung bei hochkomplexen computergestützten Tätigkeiten wurde mit Hilfe des ambulatorischen Monitorings im Europäischen Patentamt in Den Haag eine Feldstudie durchgeführt. Dabei zeigten kurze Unterbrechungen nach etwa einstündigen Arbeitsperioden am Vormittag die günstigste Wirkung, während gegen Ende der Arbeitszeit längere Pausen nach mehrstündigen Arbeitsperioden im Sinne der Beanspruchungsreduktion wirksamer waren (Boucsein und Thum, 1995, 1996).

Vorbereitung des Piloten auf den Feldversuch
3. Flugpsychologie
In Zusammenarbeit mit der Karl-Franzens-Universität in Graz (Prof. Dr. K.-W. Kallus) werden psychophysiologische Messungen bei Piloten von Sportflugzeugen mit dem Ziel durchgeführt, objektive Indikatoren für den Erfolg eines Flugsimulator-Trainings zu gewinnen. Die Untersuchungen werden durch die österreichische Forschungsföderungsgesellschaft (FFG) finanziell gefördert.
4. Technologiefolgenabschätzung
In älteren Untersuchungen unserer Arbeitsgruppe wurden psychophysiologische Verfahren eingesetzt, um Beanspruchungen objektiv zu messen, die sich aus der Mensch-Rechner-Interaktion ergeben.
Zunächst wurde die Zeitstruktur von Bildschirmdialogtätigkeiten untersucht mit dem Ergebnis, dass einerseits sehr lange Systemantwortzeiten in der Mensch-Rechner-Interaktion das Befinden und die Leistung der Benutzer beeinträchtigten können, dass jedoch andererseits Systemantwortzeiten unterhalb einer bestimmten Dauer mit Leistungseinbußen und erhöhter psychophysiologischer Beanspruchung verbunden sein können (Schaefer, Kuhmann, Boucsein & Alexander, 1986; Kuhmann, Boucsein, Schaefer & Alexander, 1987). Vermutlich existiert für jede Aufgabe eine Wartezeit von optimaler Dauer, die anhand von subjektiven, physiologischen und Leistungsparametern bestimmt werden kann (Kuhmann, 1989; Schaefer, 1990). Mittels psychophysiologischer Parameter optimierte Zeitstrukturen sollen Beeinträchtigungen der Benutzer verringern und auf diese Weise erheblich zu einer Erhöhung der Effizienz der Bildschirmarbeit beitragen (Boucsein, 2000).
Im Anschluss daran wurde die Aufgabensteuerung (das sog. Scheduling) auf einem Multi-Tasking-fähigen System untersucht. Dabei wurde neben der Bewältigung der Hauptaufgabe eine zeitlich optimierte Delegation von Teilaufgaben an das System verlangt. Durch geeignete Prozeßindikatoren, die eine Antizipation des zukünftigen Systemzustandes erleichtern, sollte dem Benutzer die Anwendung einer effektiven Arbeitsstrategie ermöglicht werden (Boucsein, Figge, Göbel, Luczak & Schaefer, 1998; Schaefer, Schäfer & Boucsein, 2000).
Literatur:
Boucsein, W. (1991). Arbeitspsychologische Beanspruchungsforschung heute - eine Herausforderung an die Psychophysiologie. Psychologische Rundschau, 42, 129-144.
Boucsein, W. (1993). Psychophysiology in the computer workplace - goals and methods. In H. Luczak, A. Cakir, & G. Cakir (Eds.), Work With Display Units 92 (pp. 135-139). Amsterdam: North-Holland.
Boucsein, W. (2000). The use of psychophysiology for evaluating stress-strain processes in human computer interaction. In: R. W. Backs, & W. Boucsein (Eds.), Engineering Psychophysiology. Issues and Applications (pp. 289-309). Mahwah, N. J.: Lawrence Erlbaum.
Boucsein, W., Psychophysiological methods. In: W. Karwowski (Ed.) (2001), International Encyclopedia of Ergonomics and Human Factors, Vol. III (pp. 1889-1895). London: Taylor & Francis.
Boucsein, W. (2006). Psychophysiologische Methoden in der Ingenieurpsychologie. In B. Zimolong, & U. Konradt (Eds.), Enzyklopädie der Psychologie. Themenbereich D Praxisgebiete. Serie III Wirtschafts-, Organisations- und Arbeitspsychologie. Band 2 Ingenieurpsychologie (pp. 317-358). Göttingen: Hogrefe.
Boucsein, W. (2007). „Psychophysiologie in der Ergonomie”, „Psychophysiologische Beanspruchungsmessung”, „Systemresponsezeiten“. In: K. Landau (Hrsg.), Lexikon Arbeitsgestaltung. Stuttgart: Gentner Verlag.
Boucsein, W. (2007). Psychophysiologie im Flug - eine Fallstudie. In P. G. Richter, R. Rau, & S. Mühlpfordt (Eds.), Arbeit und Gesundheit. Zum aktuellen Stand in einem Forschungs- und Praxisfeld (pp. 130-142). Lengerich: Pabst Science Publishers.
Boucsein, W., & Backs, R. W. (2000). Engineering psychophysiology as a discipline: Historical and theoretical aspects. In R. W. Backs, & W. Boucsein (Eds.), Engineering Psychophysiology Issues and Applications (pp. 3-30). Mahwah, N. J.: Lawrence Erlbaum.
Boucsein, W., & Backs, R. W. (2009). The Psychophysiology of Emotion, Arousal, and Personality: Methods and Models. In V. G. Duffy (Ed.), Handbook of Digital Human Modeling (pp. 35-1 – 35-18). Boca Raton: CRC Press/ Taylor & Francis.
Boucsein, W., Figge, B. R., Göbel, M., Luczak, H., & Schaefer, F. (1998). Beanspruchungskompensation beim Multi-Tasking während der Bearbeitung einer CAD-Simulation. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 52 (24 NF), 221-230.
Boucsein, W., Schaefer, F., Kefel, M., Busch, P., & Eisfeld, W. (2002). Objective emotional assessment of tactile hair properties and their modulation by different product worlds. International Journal of Cosmetic Science, 24, 135-150.
Boucsein, W., Schaefer, F., Schwerdtfeger, A., Busch, P., & Eisfeld, W (1999). Objective emotional assessment of foam. SÖFW-Journal, 125, 2-17.
Boucsein, W., & Thum, M. (1995). Psychophysiological investigation of system response times and of different break schedules in highly demanding work with display units. In A. Grieco, G. Molteni, E. Occhipinti, & B. Piccoli (Eds.), Work with display units 94 (pp. 233-240). Amsterdam: Elsevier (North-Holland).
Boucsein, W., & Thum, M. (1996). Multivariate psychophysiological analysis of stress-strain processes under different break schedules during computer work. In: J. Fahrenberg, &. M. Myrtek (Eds.), Ambulatory assessment (pp. 305-313). Seattle: Hogrefe & Huber.
Eisfeld, W., Wachter, R., Stürmer, R., Schaefer, F., & Boucsein, W. (2006).Perceivable wellness effects via a new liposome concept for fabric care. SÖF-Journal, 132, 84-92.
Eisfeld, W., Schaefer, F., Boucsein, W., & Stolz, C. (2005). Tracking intersensory properties of cosmetic products via psycho-physiological assessment. International Federation Societies of Cosmetic Chemists (IFSCC), 8, 25-30.
Kohlisch, O., Kuhmann, W., & Boucsein, W. (1991). Auswirkungen systembedingter Arbeitsunterbrechungen bei computerunterstützter Textverarbeitung: eine Feldstudie. Zeitschrift für Experimentelle und Angewandte Psychologie, 38, 585-604.
Kuhmann, W. (1989). Experimental investigation of stress-inducing properties of system response times. Ergonomics, 32, 271-280.
Kuhmann, W., Boucsein, W., Schaefer, F., & Alexander, J. (1987). Experimental investigation of psychophysiological stress-reactions induced by different system response times in human-computer interaction. Ergonomics, 30, 933-943.
Schaefer, F. (1990). The effect of system response times on temporal predictability of work-flow in human-computer interaction. Human Performance, 3, 173-186.
Schaefer, F., Kuhmann, W., Boucsein, W., & Alexander, J. (1986). Beanspruchung durch Bildschirmtätigkeit bei experimentell variierten Systemresponsezeiten. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 40 (12 NF), 31-38.
Schaefer, F., Schäfer, R., & Boucsein, W. (2000). Auswirkungen von Prozeßlaufzeit und Prozessindikatoren beim Multi-Tasking auf Arbeitsstrategie und Beanspruchung des Benutzers. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 54, 267-275.</p</p>